“Der Gemeinderat ist nicht Teil der Stadtverwaltung.“
Diese Aussage liest man häufig, nur ist sie nicht richtig. Der Gemeinderat ist nicht nur ein Teil, sondern sogar das Hauptorgan der Verwaltung. Und gleichzeitig sind seine Mitglieder gewählte Vertreter der Bürgerinnen und Bürger.
Der Gemeinderat „entscheidet über alle Angelegenheiten der Gemeinde, soweit nicht der Bürgermeister kraft Gesetzes zuständig ist oder ihm der Gemeinderat bestimmte Angelegenheiten überträgt“ (§24 GemO). Dazu gehört auch die Überwachung der Ausführung seiner Beschlüsse und die Kontrolle der Gemeindeverwaltung. Der Gemeinderat ist Verwaltungsorgan, seine Mitglieder sind Amtsträger. Zu ihren Pflichten gehört unter anderem die Treuepflicht. Konsequenz dieser Pflicht ist etwa, dass sie an rechtmäßig zustande gekommene Beschlüsse des Gemeinderats gebunden sind, auch diejenigen, die dagegen gestimmt haben.
Eine interessante Aussage hierzu macht das Bundesverwaltungsgericht: „Aber auch in diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Gemeinderat kein Forum zur Äußerung und Verbreitung privater Meinungen, sondern ein Organ der Gemeinde ist, das die Aufgabe hat, die divergierenden Vorstellungen seiner gewählten Mitglieder im Wege der Rede und Gegenrede und der nachfolgenden Abstimmung zu einem einheitlichen Gemeindewillen zusammenzuführen und der Gemeinde so die nötige Entscheidungsund Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Demgemäß nimmt das Ratsmitglied, wenn es sich in der Ratssitzung zu einem Gegenstand der Tagesordnung zu Wort meldet, nicht seine im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, sondern organschaftliche Befugnisse in Anspruch, die ihm als Teil eines Gemeindeorgans verliehen wurden.“ (BVerwG, NVwZ 1988)
Auf der anderen Seite sind die Mitglieder des Gemeinderates Personen, die sich den Bürgerinnen und Bürgern zur Wahl gestellt hatten, mit einem Wahlprogramm und Versprechungen, wofür sie sich im Gemeinderat einsetzen würden. Die Bürgerinnen und Bürger können erwarten, dass ihre gewählten Vertreter sich für das einsetzen, was sie versprochen haben.
Schließlich kommt hinzu, dass die Mitglieder des Gemeinderates im Rahmen ihrer Tätigkeit ehrenamtliche Laien sind. Sie führen ihre Aufgabe als Amtsträger weder haupt- noch nebenberuflich aus und sind im Allgemeinen weder Fachexperten für Verwaltungsrecht, noch für Finanzrecht, noch für Baurecht oder ähnliches.
Es handelt sich also um ein kompliziertes Konstrukt. Ein Mitglied im Gemeinderat ist:
1. Amtsträger im obersten Verwaltungsorgan
2. gewählter Bürgervertreter
3. ehrenamtlicher Laie
Mit der Wahl einer Bürgerin oder eines Bürgers in den Gemeinderat wird somit zwangsweise ein Rollenwechsel vollzogen.
Als engagierter Bürger kann ich mich für eine bestimmte Forderung einsetzen, etwa den Bau eines Vereinshauses. Ich muss diese Forderung nicht mit einer Planungs- oder Kostenanalyse hinterlegen und sie nicht in diplomatischer Form vorbringen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die Forderung muss kantig und ständig wiederholt werden, damit sie überhaupt gehört wird.
Sobald ich in den Gemeinderat gewählt bin, muss das Fordern in die Bemühung nach Umsetzung wechseln. Es muss eine Mehrheit im Gemeinderat für das Vereinshaus herbeigeführt werden. Das bedingt ein anderes Vorgehen als außerhalb des Gemeinderats, auch wenn sich an den inhaltlichen Argumenten nichts geändert hat. Ich muss notfalls Kompromisse eingehen und sämtliche Konsequenzen der Umsetzung entscheiden und verantworten (Finanzierung, Kürzung an anderer Stelle, Frage der Gleichbehandlung von Vereinen, Folgekosten). Nur wer an der Umsetzung nicht interessiert ist, kann beim reinen Fordern stehen bleiben.
Die Anpassung der Forderung an das Machbare und Durchsetzbare und, im Erfolgsfall, die Zustimmung durch eine breite Mehrheit im Gemeinderat wirkt nach außen dann vielleicht völlig anders: Aufweichung der eigenen Position, Verlust der klaren Kante, Gleichschaltung des Gemeinderats. Und so geschieht es regelmäßig, dass aus den 26 Personen, die von der Bürgerschaft als die fähigsten und vertrauensvollsten unter ihnen ausgewählt wurden, nach der Wahl scheinbar die unfähigsten und rückgratlosesten werden, und das alle 5 Jahre aufs Neue.
Das Verständnis von außen für den Rollenwechsel vom Wahlkandidaten zum gewählten Amtsträger und für den notwendigen Übergang vom Geforderten zum Machbaren ist wichtig. Es beseitigt nicht berechtigte Kritik an den Bürgervertretern. Aber es macht ihr Handeln nachvollziehbarer und die Bewertung ihrer Entscheidungen vielleicht hin und wieder etwas gerechter.
Ulf Janicke
Fraktion LBU/Die Grünen